FAQ

  • mis(s)understood bodies ist ein feministisches Aufklärungsprojekt, das sich mit geschlechtsspezifischen Wissenslücken und Vorurteilen in der Medizin auseinandersetzt. Im Zentrum stehen Erfahrungen von Patient:innen, deren Symptome zu lange nicht ernst genommen oder falsch eingeschätzt wurden – oft mit gravierenden gesundheitlichen Folgen.

    Durch animierte Kurzfilme, Social-Media-Aufklärung, Workshops, Veranstaltungen und interdisziplinäre Kollaborationen macht das Projekt auf die sogenannte Gender Health Gap und das Phänomen des Medical Gaslighting aufmerksam. Ziel ist es, strukturelle Missstände in der Gesundheitsversorgung sichtbar zu machen, Betroffene zu vernetzen und langfristig für ein gerechteres, diskriminierungssensibles Gesundheitssystem zu kämpfen.

  • Medizin wird häufig als objektive Wissenschaft verstanden – als neutrale Instanz, die allen Menschen gleichermaßen dient. Doch historisch und strukturell war und ist sie alles andere als neutral. Denn medizinisches Wissen entsteht nicht losgelöst von gesellschaftlichen Normen – es ist durchzogen von patriarchalen, androzentrischen und kolonialen Vorstellungen darüber, wie Körper zu sein haben.

    Gerade bei als weiblich gelesenen Körpern wurden Beschwerden über Jahrhunderte hinweg pathologisiert und psychologisiert. Die antike „Hysterie“-Diagnose etwa galt als Erklärung für fast alle körperlichen Leiden von Frauen – zurückgeführt auf eine „irrational wandernde Gebärmutter“. Und auch später, im Zeitalter der Psychoanalyse, wurden Symptome von Frauen oft nicht als Ausdruck realer, körperlicher Erkrankungen verstanden, sondern als Manifestation innerer Konflikte. Bis heute wirkt diese Sichtweise nach.

    Obwohl feministische Kämpfe und die geschlechtergerechte Forschung wichtige Fortschritte erzielt haben, bestehen tiefgreifende Wissenslücken fort: Viele Erkrankungen – etwa Endometriose, Autoimmunerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Leiden – sind bei FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) nicht ausreichend erforscht, werden spät diagnostiziert oder schlicht nicht ernst genommen. Studien zeigen, dass Ärzt:innen die Symptome von cis Männern häufiger als körperlich-biologisch interpretieren, während sie bei FLINTA*-Personen als psychosozial oder emotional eingeordnet werden.

    Hinzu kommen fehlende Daten zu trans, inter und nicht-binären Menschen, Rassismus in Diagnostik und Therapie, ableistische Strukturen und sprachliche Barrieren. Das Resultat ist ein strukturelles Ungleichgewicht – eine Gesundheitsversorgung, die viele Menschen ausschließt, ignoriert oder gar gefährdet. mis(s)understood bodies will dem etwas entgegensetzen: durch Sichtbarmachung, Austausch, Aufklärung – und durch künstlerische Mittel, die helfen, Erfahrungen greifbar zu machen.


  • Heute wird das Projekt von Julia Vanessa Maier und Verena Ziegler geleitet und stetig weiterentwickelt. Julia bringt ihren Hintergrund im Eco-Social Design sowie in Illustration und visueller Kommunikation ein, Verena ergänzt das Team mit ihrer Expertise in Kommunikation und Social Media. Gemeinsam bauen sie das Projekt interdisziplinär aus, vernetzen sich mit Expert:innen und entwickeln Formate, die empowern, informieren und Veränderung anstoßen.

    mis(s)understood bodies wurde 2022 im Rahmen eines Masterabschlussprojekts ins Leben gerufen. Ausschlaggebend waren persönliche Erfahrungen mit medizinischer Invalidierung sowie zahlreiche ähnliche Berichte im Freund:innen- und Bekanntenkreis. Beschwerden wurden nicht ernst genommen, Diagnosen jahrelang verzögert, Schmerzen heruntergespielt oder als „psychisch“ eingeordnet.

    Durch die Auseinandersetzung mit diesen Geschichten wurde deutlich: Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um systemische Muster innerhalb eines patriarchal geprägten Gesundheitssystems. Die Recherche zur Gender Health Gap und zum sogenannten Medical Gaslighting legte die strukturellen Ursachen offen – und machte deutlich, wie dringend es Sichtbarkeit, Aufklärung und Veränderung braucht.


  • Initiativ startete das Projekt mis(s)understood bodies mit animierten Kurzfilmen, welche der Perspektive von Patient:innen Gehör verschaffen. Persönliche Geschichten werden durch künstlerische Mittel metaphorisch visualisiert. Das Teilen der persönlichen, intimen Realität schafft wertvolles Wissen – Wissen, das ein starres Diagnosemodell nicht berücksichtigen kann oder will.

    In einem kollaborativen Prozess wurden diese Erfahrungen gesammelt, gemeinsam reflektiert und in eine künstlerische Form übersetzt. Entstanden sind animierte Kurzfilme, in denen reale Krankheitsverläufe anhand von Metaphern und Bildern erzählt werden – jeweils inspiriert und gesprochen von den Betroffenen selbst. Die Filme sind berührend, verstörend, kraftvoll – und schaffen über ihre visuelle Sprache eine neue Zugänglichkeit zum Thema.

    mis(s)understood bodies nutzt Social Media, Veranstaltungen, Workshops und Kooperationen, um diese Geschichten sichtbar zu machen. So entsteht nicht nur ein Raum für Austausch und Empowerment unter Betroffenen, sondern auch ein Ort für Sensibilisierung – insbesondere für medizinisches Fachpersonal, Angehörige und Menschen, die bisher kaum Berührung mit diesen Themen hatten.

    Die Hoffnung: durch das Sichtbarmachen dieser strukturellen Missstände langfristig zu einer gerechteren und respektvolleren Gesundheitsversorgung beizutragen.


  • Die Rückmeldungen zum Projekt zeigen, wie dringend patient:innenzentriertes Denken in der Medizin gebraucht wird – und wie viel Gestaltungspotenzial es dafür gibt:

    • Behandlungsräume sollten gemeinsam mit Patient:innen entworfen werden – z. B. so, dass Umkleidebereiche nicht einsehbar sind.

    • Medizinische Instrumente wie das Spekulum in der Gynäkologie bedürfen einer nutzer:innenfreundlichen, respektvollen Weiterentwicklung.

    • Sprache ist zentral: „Frauenarzt“ ist keine inklusive Berufsbezeichnung. Auch trans Männer gehen zur Gynäkologie.

    • Ärzt:innen sollten Patient:innen aktiv einbinden: Was wurde bereits ausprobiert? Welche Vermutungen gibt es? Welche Vermutungen haben sie? Und diesen Vermutungen muss zugehört werden, ihnen muss Glauben geschenkt werden, sie müssen ernst genommen und überprüft werden.

    Empathie, Vertrauen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind keine „Extras“, sondern Grundpfeiler einer funktionierenden medizinischen Versorgung.



    • Behandlungszimmer sollten in einem Co-Kreationsprozess mit Patient*innen geplant werden (z. B. sodass der Umkleideraum nicht vom Gang einsichtig ist)

    • Untersuchungsgegenstände muss den Empfindungen der Patient*innen angepasst werden (z. B. das Spekulum in der Gynäkologie: es erinnert mehr an ein Instrument aus der Antike als an eine zeitgemäße Untersuchung)

    • Eine inklusive Sprache im medizinischen Kontext sollte eine Selbstverständlichkeit sein (z. B. sollte nicht mehr von „Frauenarzt“ die Rede sein, um auch trans* Männer anzusprechen)

    • Medizinische Untersuchungs- und Behandlungsprozesse sollten den Patient*innen mehr Raum geben – was haben Patient*innen vielleicht schon selbst ausprobiert? Was können sie ausschließen? Welche Vermutungen haben sie? Und diesen Vermutungen muss zugehört werden, ihnen muss Glauben geschenkt werden, sie müssen ernst genommen und überprüft werden.“

  • Aktuell arbeitet mis(s)understood bodies gemeinsam mit Feministische Medizin e. V. an einer deutschlandweiten Plakatkampagne, die medizinische Vorurteile sichtbar macht – mit echten Zitaten von Patient:innen. 

    Darüber hinaus berichten Betroffene in weiteren Social-Media-Formaten wie „I am a mis(s)understood body“ von ihren Diagnosegeschichten. Im Hintergrund entstehen fortlaufend Kollaborationen mit Expert:innen und Forschenden aus unterschiedlichen Disziplinen. Für die Zukunft träumt das Projekt zudem von einem eigenen Podcast. Das Ziel bleibt dasselbe: eine Medizin, die alle mitdenkt. Denn je mehr Menschen ihre Geschichten teilen, desto mehr können Tabus, Stereotype und Vorurteile abgebaut werden – und desto eher erhalten Betroffene die Hilfe, die sie verdienen.


Aléna

Aléna leidet an Endometriose, seit sie ihre erste Periode bekam. Ihr Weg zur Diagnose war holprig, nur wenige Spezialist*innen kennen sich mit der Erkrankung gut genug aus, um sie frühzeitig zu erkennen und Therapieformen anzubieten.

Die Krankheit schränkt sie oft in ihrem Alltag als Tänzerin ein. Besonders schlimm trifft es sie, wenn man sie und ihre Erkrankung nicht ernst nimmt – vor allem in der medizinischen Praxis.

Mia

Mias Ärzt*innen vermuteten eine Angststörung und entgegneten den Beschreibungen
ihrer Symptome mit Unglauben: „Das ist gar nicht möglich.”

Nach monatelanger Überzeugungsarbeit unter Symptomen wie Kurzatmigkeit, erhöhter Temperatur, Durchfall, extreme Erschöpfung, starkem Herzrasen, Schwindel und Brainfog, wurde bei Mia endlich ein Lungen-CT durchgeführt. Dort stellte sich heraus, dass nicht nur Mias Lunge betroffen war, sondern sie auch eine abgelaufene Perimyokarditis hatte.

Mia kämpfte darum, an die Charité in Berlin überwiesen zu werden. Das klappte nur, weil sie ihre Ärztin frei heraus fragte, ob sie die Verantwortung übernehmen wolle, wenn sich ihr Zustand weiter verschlechtere. In der Charité wurde Mia dann nach einer Weile mit
Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) diagnostiziert.

Sophia

Lange Zeit wurden Sophias Symptome als wiederkehrende Depression beschrieben. Über die Jahre wurde Sophia in verschiedene Verdachtsdiagnosen gesteckt, auch wenn die Beschwerden eigentlich gar nicht zu den Diagnosekriterien passte. Außerdem sei Sophia theatralisch, zu emotional und übertreibe nur.

Ein Arzt wollte Sophia sogar eine sogenannte „histrionische Persönlichkeitsstörung“ auferlegen (die mehr oder weniger eine moderne Weiterentwicklung der alten „Hysterie“ ist). Persönlichkeitsstörungen kann und sollte man jedoch erst im Alter von mindestens 17 Jahren diagnostizieren. Nämlich dann, wenn sich die Persönlichkeit eines Menschen etwas gefestigt hat.

ADHS schließlich als Auslöser für die Depressionen in Erwägung zu ziehen, war keine Leistung von Ärzt*innen, sondern Sophias eigene Überlegung. Mit Hilfe von den richtigen Psychotherapeut:innen ist Sophia dieser Idee dann weiter auf den Grund gegangen und konnte sich nun, nach mittlerweile 26 Jahren mit für sie lange unerklärlichen Symptomen, endlich auf den richtigen diagnostischen Weg begeben.

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