FAQ

  • “mis(s)understood bodies” ist das Masterabschlussprojekt von Julia Maier.

    Julia hat einen Hintergrund in Social Design, Grafikdesign und Illustration. In “mis(s)understood bodies” setzt sie sich künstlerisch mit dem Thema „gender health gap” auseinander - also der medizinischen Ungleichbehandlung auf Basis des Geschlechts.

    Wir sind große Fans ihres Projektes und freuen uns sehr, dass wir drei der Videos hier ausstellen dürfen.

    In den nächsten Antworten kommt Julia selbst zu ihrem Projekt zu Wort.

  • “Medizin wird oft bezeichnet als Kunst, die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu lösen. Daher wird von ihr als vermeintlich neutrale Wissenschaft erwartet, dass sie alle Menschen gleich behandelt. Patient*innen wollen, dass ihr*e Ärzt*innen ihnen unvoreingenommen zuhören. Aber hier werden die Dinge kompliziert.

    In der Medizin treffen schon immer biologische Faktoren mit soziokulturellen Einflüssen aufeinander. Das heißt, seit Jahrhunderten ist das medizinische Wissen über die als weiblich gelesenen Organe und Systeme mit patriarchalen und androzentrischen Vorstellungen von Weiblichkeit behaftet. Die Theorien besagten, dass diese Fortpflanzungsorgane ihre gesamte Energie verbrauchten, und nichts für das Gehirn übrig bleibe. So waren Frauen laut Ärzten der Antike von Natur aus anfällig für Nervenleiden, wie die berühmte „Hysterie“. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich diese zu einer allumfassenden Diagnose für Menschen mit Uterus.

    Im Gegensatz zu Hippokrates, der glaubte, dass die Gebärmutter alle Beschwerden der Frauen verursachte, sah Sigmund Freud, als die Psychologie in den späten 1800er Jahren aufkam, „hysterische“ Symptome eher als körperlichen Ausdruck psychischer Konflikte. Also in kurz: Es ist alles nur im Kopf. Symptome wie "depressive Gemüter" und "Unruhe" wurden als Ursache der Schmerzen und nicht als deren Folge angesehen.

    Durch feministische Aufstände und große Fortschritte in der Forschung, ist das medizinische Wissen heute natürlich viel weiter. Eine (wenn auch oft unbewusste) sexistische Voreingenommenheit hat sich jedoch bis heute gehalten. Das jahrelange Vernachlässigen der Forschung an allen Körpern, die nicht cis-männlich, weiß und ohne Behinderung sind, führte zu einer großen Wissenslücke bei Ärzt*innen, die neben derer sozialen Vertrauenslücke Frauen, aber auch z. B. intersex* oder trans* Personen den Weg zur Erklärung ihrer Schmerzen erschwert. Auch heute noch warten viele jahrelang auf die Diagnose von Erkrankungen wie Endometriose oder Autoimmunerkrankungen. Medizinische Studien zeigen, dass Ärzt*innen die Symptome von Männern eher als körperliche oder biologische Symptome, und die von Frauen als emotionale oder psychosoziale Symptome interpretieren. Das ist in beide Richtungen problematisch. Daten zu gender-diversen Gruppen gibt es außerdem kaum.”

  • „Das Projekt mis(s)understood bodies möchte der Perspektive der Patient*innen Raum geben und sie dazu empowern, ihre Geschichten zu erzählen. Das Teilen der persönlichen, intimen Realität schafft wertvolles Wissen – Wissen, das ein starres Diagnosemodell nicht berücksichtigen kann oder will. Das Projekt hört endlich denjenigen zu, die ihrem Schmerz am nächsten sind – den Patient*innen. Durch die Aufdeckung von Krankheits-, Diagnose- und Schmerzgeschichten soll das Bewusstsein für das sogenannte "Gender Health Gap" geschärft und "Medical Gaslighting" von Patient*innen bekämpft werden.

    In einem kollaborativen Prozess, bestehend aus Workshops und Creative Thinking Methoden, wurden die Erfahrungen der Patient*innen gesammelt und dann in eine visuelle Sprache umgewandelt. Das Ergebnis sind Kurzfilme, inspiriert von Metaphern, die von den Erkrankten selbst geschaffen und erzählt wurden. Diese Filme wurden vor allem über Social Media geteilt, können aber auch auf Veranstaltungen gezeigt und diskutiert werden. Die Reaktionen von Patient*innen sind überwältigend und zeigen eindeutig das Bedürfnis nach mehr Empathie, sowie danach besser verstanden und gehört zu werden. Durch das Erzählen der persönlichen Geschichten von Leidensgenoss*innen findet eine Identifikation statt, Patient*innen fühlen sich gesehen und verstanden. Viele haben die Videos abgespeichert und mit ihren Angehörigen geteilt, die ihre Krankheitserfahrungen nun endlich besser verstehen können.

    Die Hoffnung ist groß, dass in Zukunft mehr medizinisches Personal Zugang zu den Videos erhalten und so ein Perspektivwechsel ermöglicht werden kann.“

  • „Ich selbst habe einige Erfahrungen mit dem sogenannten Medical Gaslighting in milderer Form machen müssen. Auch einige Freundinnen berichteten immer wieder davon, wie sie mit ihren Beschwerden bei Ärzt*innen nach Hilfe suchten und diese nicht fanden, sogar teilweise jahrelang auf eine Diagnose warten mussten. Sie wurden oft damit abgetan, dass die unterschiedlichsten Beschwerden ja normal seien bei (jungen) Frauen, es nur an der Periode liege oder gar psychosomatisch sei.

    Lange habe ich das alles nicht aktiv wahrgenommen, da dieser mal mehr und mal weniger unterschwellige Sexismus leider für viele Frauen und weiblich gelesenen Personen zum Alltag gehört und irgendwann normal wird. Bis ich eines Tages online über den Begriff „Gender Health Gap“ gestolpert bin. Erst dann habe ich begriffen, dass das keine vereinzelten Erfahrungen sind, sondern das Resultat eines patriarchalen Gesundheitssystems, das auf einer cis-männlichen Normativität basiert.

    So entschloss ich mich diese Problematik zum Thema meiner Masterarbeit zu machen.“

  • “Das Projekt mis(s)understood bodies und vor allem die Reaktionen auf die Veröffentlichungen der Filme zeigen, wie wichtig patient*innenzentriertes Design im Gesundheitssektor ist. Und das nicht nur in Bezug auf Kreativberufe, sondern bei allen Disziplinen:

    • Behandlungszimmer sollten in einem Co-Kreationsprozess mit Patient*innen geplant werden (z. B. sodass der Umkleideraum nicht vom Gang einsichtig ist)

    • Untersuchungsgegenstände muss den Empfindungen der Patient*innen angepasst werden (z. B. das Spekulum in der Gynäkologie: es erinnert mehr an ein Instrument aus der Antike als an eine zeitgemäße Untersuchung)

    • Eine inklusive Sprache im medizinischen Kontext sollte eine Selbstverständlichkeit sein (z. B. sollte nicht mehr von „Frauenarzt“ die Rede sein, um auch trans* Männer anzusprechen)

    • Medizinische Untersuchungs- und Behandlungsprozesse sollten den Patient*innen mehr Raum geben – was haben Patient*innen vielleicht schon selbst ausprobiert? Was können sie ausschließen? Welche Vermutungen haben sie? Und diesen Vermutungen muss zugehört werden, ihnen muss Glauben geschenkt werden, sie müssen ernst genommen und überprüft werden.“

  • “Nach einer einjährigen Pause nach Abschluss des Projekts an der Uni, habe ich mir nun mit Anja Neubauer und Verena Ziegler zwei Social Media-Expertinnen ins Boot geholt. Der Plan ist, nun die bereits bestehenden Filme aufzurollen und in kleineren Ausschnitten auf Instagram zu teilen, um genauer auf die einzelnen Symptomatiken der unterschiedlichen Erkrankungen einzugehen.

    In Zukunft sollen zudem auch öfter Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen aus Patient*innen-Sicht befragt werden. Im Mittelpunkt des Projekts sollen jedoch immer die Patient*innen selbst bleiben.

    Genau deshalb entwickele ich mit Anja und Verena das Format „I am a mis(s)understood body“, in welchem Patient*innen von ihren Diagnose-Geschichten und Schmerz-Erfahrungen berichten können. Je mehr Menschen ihre Geschichten erzählen, desto mehr werden Tabus, Stereotypen und Vorurteile abgebaut, die sie daran hindern, die Hilfe zu bekommen, die sie verdienen.”

Aléna

Aléna leidet an Endometriose, seit sie ihre erste Periode bekam. Ihr Weg zur Diagnose war holprig, nur wenige Spezialist*innen kennen sich mit der Erkrankung gut genug aus, um sie frühzeitig zu erkennen und Therapieformen anzubieten.

Die Krankheit schränkt sie oft in ihrem Alltag als Tänzerin ein. Besonders schlimm trifft es sie, wenn man sie und ihre Erkrankung nicht ernst nimmt – vor allem in der medizinischen Praxis.

Mia

Mias Ärzt*innen vermuteten eine Angststörung und entgegneten den Beschreibungen
ihrer Symptome mit Unglauben: „Das ist gar nicht möglich.”

Nach monatelanger Überzeugungsarbeit unter Symptomen wie Kurzatmigkeit, erhöhter Temperatur, Durchfall, extreme Erschöpfung, starkem Herzrasen, Schwindel und Brainfog, wurde bei Mia endlich ein Lungen-CT durchgeführt. Dort stellte sich heraus, dass nicht nur Mias Lunge betroffen war, sondern sie auch eine abgelaufene Perimyokarditis hatte.

Mia kämpfte darum, an die Charité in Berlin überwiesen zu werden. Das klappte nur, weil sie ihre Ärztin frei heraus fragte, ob sie die Verantwortung übernehmen wolle, wenn sich ihr Zustand weiter verschlechtere. In der Charité wurde Mia dann nach einer Weile mit
Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) diagnostiziert.

Sophia

Lange Zeit wurden Sophias Symptome als wiederkehrende Depression beschrieben. Über die Jahre wurde Sophia in verschiedene Verdachtsdiagnosen gesteckt, auch wenn die Beschwerden eigentlich gar nicht zu den Diagnosekriterien passte. Außerdem sei Sophia theatralisch, zu emotional und übertreibe nur.

Ein Arzt wollte Sophia sogar eine sogenannte „histrionische Persönlichkeitsstörung“ auferlegen (die mehr oder weniger eine moderne Weiterentwicklung der alten „Hysterie“ ist). Persönlichkeitsstörungen kann und sollte man jedoch erst im Alter von mindestens 17 Jahren diagnostizieren. Nämlich dann, wenn sich die Persönlichkeit eines Menschen etwas gefestigt hat.

ADHS schließlich als Auslöser für die Depressionen in Erwägung zu ziehen, war keine Leistung von Ärzt*innen, sondern Sophias eigene Überlegung. Mit Hilfe von den richtigen Psychotherapeut:innen ist Sophia dieser Idee dann weiter auf den Grund gegangen und konnte sich nun, nach mittlerweile 26 Jahren mit für sie lange unerklärlichen Symptomen, endlich auf den richtigen diagnostischen Weg begeben.

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